Die Kriegserklärung gegen ISIS hat Anonymous in den vergangenen Tagen besonders bei Facebook eine extrem hohe Aufmerksamkeit beschwert. Artikel über die Erklärung und auch die Enttarnung von ISIS-Kämpfern wurden tausendfach geteilt und verbreitet.
Profitiert hat in Deutschland eine Facebook-Seite, die seit Jahren unter dem Namen Anonymous Verschwörungstheorien im Pegida-Sprech verbreitet: Allein zwischen dem 16. und 18. November 2015 erhielt „Anonymous Kollektiv“ laut Fanpagekarma 332.652 neue Likes, zählt nun insgesamt mehr als 1,3 Millionen „Gefällt mir“-Angaben.
Wer die Seite liked, läuft in die Arme von Verschörungstheoretikern, die dort ihre prorussische Weltsicht ausbreiten.
Beispiele für Begriffe aus den jüngsten Beiträgen: Es geht um die „Pädopartei Bündnis 90/Die Grünen“, es ist die Rede vom „öffentlich-rechtlichen Gossenfernsehen 3Sat“, der „Schmierenkomödie netzpolitik.org“, den „Schmutzliteraten der Lügenpresse„, der „Enteignung und Entrechtung der Mehrheit der Bevölkerung, vollzogen von einer korrupten Elite in Politik, Wirtschaft und Medien“, der „verbrecherisch agierenden Berliner Regierungsclique“, der „nicht mehr zurechnungsfähigen amerikanischen Kanzlerin in Berlin“. Und es wird ein Video angeteasert mit „Friedensstifter gegen Drohnenmörder“ (Putin und Obama; in dieser Reihenfolge).
Die Aufzählung lässt sich beliebig weiterführen.
Weiter gibt es krude Begründungen vom Admin der Seite in den Kommentaren, etwa warum die Terrororganisation ISIS niemals auszulöschen sei:
„…weil er Multi-Milliarden US-Dollar der US-Regierung gespeist wird. Aber auch das Böse ist vergänglich!“
Aha.
Der vermutliche Grund für den riesigen Anstieg der „Gefällt mir“-Angaben: die extreme Aufmerksamkeit bei Facebook für Anonymous nach der Kriegserklärung gegen ISIS. Fünf der zehn Artikel mit den laut Messung von 10000flies meisten „Flies“ am 17. November 2015 drehten sich um dieses Thema.
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass nahezu jedem deutschen Facebook-Nutzer die Anonymous-Kriegserklärung in irgendeiner Form in die Timeline gespült wurde.
Wer in Deutschland den Namen Anonymous in seine Facebook-Suche eingibt, landet mit hoher Wahrscheinlichkeit zunächst bei der Seite „Anonymous Kollektiv“. Mutmaßlich haben in den vergangenen Tagen aufgrund des Interesses für das Thema sehr viele Leute genau das getan – und klickten ahnungslos auf „Gefällt mir“.
Die Facebook-Seite Anonymous Kollektiv war in der Vergangenheit immer mal wieder ein Thema, es gibt auch ein Video mit einer Stellungnahme dazu. Trittbrettfahrer missbrauchten den Namen als Vehikel für ihre Zwecke heißt es dort von einer Gruppe, die sich Anonymous Deutschland nennt.
Das alles kann den Betreibern dieser Seite in diesen Tagen egal sein. Ohne etwas dafür zu tun, bekamen sie in drei Tagen über 300.000 Fans „geschenkt“ – und können ihre wirren Thesen unter falschem Namen an noch mehr Leute ausspielen.
Spiegel Online schrieb 2014 über die Person, die die Seite betreiben soll. Vice musste einen entsprechenden Artikel über die Person löschen. Mimikama erhielt einen kuriosen Anruf, nachdem sie im April 2015 über das Thema berichtet hatten.
Die Lehren aus diesem Fall? Ernüchternd.
1. Mit einer einfachen Namenstäuschung lassen sich Hunderttausende Menschen in nur drei Tagen dazu bewegen, eine Seite zu liken, die sich nicht mit Anonymous beschäftigt, sondern mit kruden Verschwörungstheorien.
2. Im Schnitt erhielt ein Posting der Seite im Jahr 2015 (1. Januar bis 18. November) 8271 Interaktionen (Likes/Shares/Comments). Es gibt also durchaus eine Community für Thesen wie diese. Mit 1,3 Millionen Likes ist die Seite deutlich größer als die Facebook-Seite von Pegida (181.000 Gefällt mir) oder der AfD (170.000 Gefällt mir). Mehr als die Hälfte der Fans auf der Seite kommt laut SocialBakers-Messung aus Deutschland.
„Wenn die Authentizität eines Gegenstands auf dessen schiere quantitative Präsenz ausgelagert ist, geraten wir in ein Dilemma“, schreibt Johanna Sprondel in der FAZ über die Bedeutung von Authentizität und Kontextualisierung von Informationen im digitalen Zeitalter: „Das Aufspüren des ‚Richtigen‘ wird immer mehr zur Herausforderung und zugleich immer wichtiger in einer Zeit, in der Daten zu Informationen, Informationen über den Umweg des Contents zu Fakten und somit zu Wissen werden.“
Neuland Internet. Medienkompetenz bleibt ein Dauerthema.
Weiterlesen: Das Kraftfuttermischwerk verwies Ende Oktober auf diese Google-Suchergebnisse zur Facebook-Seite:
4 Gedanken zu “Wie Verschwörungstheoretiker den Namen Anonymous benutzen – und 300.000 Likes in 3 Tagen sammeln”
Dabei ist „Anonymous“ eine denkbar schlechte Marke für irgendwas. Es ist ein Mäntelchen, das sich jeder umhängen kann. Der Name bürgt für nichts außer unberechenbarer Beliebigkeit: Von linksextrem bis rechtsradikal und geistesgestört kann ihn jeder, der nicht zu dem steht, was er tut und verbreitet, für sich beanspruchen.